Elsa als Feministin der ersten Welle
Von Martino Zanasca
Stellung der Frau im Russland des späten 19. Jahrhunderts
Am Ende des 19. Jahrhunderts prägten patriarchalische Vorstellungen immer noch die russländische Gesellschaft. Die meisten Frauen mussten sich mit der ihnen zugewiesenen Rolle als Ehefrau und Mutter begnügen, während ein Studium eher für Männer vorgesehen war. Nicht nur die gesellschaftlichen Normen, auch die Gesetzgebung schrieb die Unterordnung der Frau vor. So musste eine Frau laut Gesetz „ihren Mann als Oberhaupt der Familie mit unbegrenzter Gehorsamkeit befolgen“. Auch Elsas Familie war der Ansicht, dass eine Frau nicht studieren sollte: „Mama und ich kamen schlecht miteinander aus“, notierte Elsa in ihren Erinnerungen, „mich ärgerte ihre kleinliche Strenge im Alltagsleben und ihr mangelndes Verständnis für meinen Wunsch, Ärztin zu werden“ (Elsa Winokurow, Erinnerungen, 175).
Elsas progressive Einstellung zu der Rolle der Frau
Elsa konnte sich mit der gesellschaftlich festgelegten Rollenzuschreibung nicht anfreunden. Dies drückte sie schon als Mädchen durch ihr Verhalten und als junge Frau durch ihre Ansichten aus. Sie verkleidete sich als Mann, um in einem Männersattel zu reiten, da ihr „das Reiten im Damensattel“ nicht gefiel (ebd. 232). Bereits als Schülerin nannte sie Katharina die Große eine „überragende Frauengestalt“ wohl wissend, dass sie dafür von ihrer Familie verspottet wurde (ebd., 55). Mit 18 Jahren heiratete Elsa – den Vorstellungen ihrer Familie zum Trotz – Dmitri Winokurow. Sie hat ihn später als einen „fortschrittlichen Mann“ beschrieben, der „keinerlei Anspruch auf Autorität erhob“, der „mit mir im Innersten übereinstimmte und mich liebte“ (ebd., 215, 191). Bezeichnend ist, dass sich Elsa gleich am Tag nach der Hochzeit in die höheren Frauenkurse einschrieb. Die Ehe öffnete ihr die Tür zum Studium und prägte damit ihr weiteres Leben. Diese Beispiele zeigen, wie wichtig es für Elsa war, sich aus den Strukturen zu befreien, in denen sie aufgewachsen war. Sie wollte nicht nur Ehefrau und Mutter sein, sondern studieren und Ärztin werden. Sie wollte „dem russischen Volk helfen“. Sie wollte mehr erreichen, als es den Frauen in der damaligen Gesellschaft eigentlich gestattet war, und mit diesem Wunsch war sie nicht allein.
Anhand des Kontrasts zwischen den beiden Fotos kann man erkennen, wie sehr sich Elsa nach der Eheschließung veränderte.
Bildtitel: Elsa Rammelmeyer, 1901, Fotografie. Quelle: Sammlung Fotografien aus dem Nachlass Elsa Winokurow. Fotografie. In: Nachlass von Elsa Winokurow (1883-1983). https://opacplus.bsb-muenchen.de/search?id=BV047117118&db=100&View=default. (CC BY-NC-SA 4.0)
Auf diesem Foto ist Elsa als unschuldiges junges Mädchen und Tochter aus gutem Hause porträtiert.
Bildtitel: Elsa Winokurow, 1907.
Quelle: Sammlung Fotografien aus dem Nachlass Elsa Winokurow. Fotografie. In: Nachlass von Elsa Winokurow (1883-1983). https://opacplus.bsb-muenchen.de/search?id=BV047117118&db=100&View=default. (CC BY-NC-SA 4.0)
Elsa in leichter Untersicht. Die Perspektive betont ihr Kinn und weist sie – in der Bildsprache der Zeit – als männlich dominant aus. Die Kleidung erscheint hier erwachsener, weniger mädchenhaft. Die Protagonistin ist nun eine selbstbewusste Frau, die sich von der traditionellen Rolle der Ehefrau und Mutter emanzipiert hat.
Elsa als Feministin der ersten Welle
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden verschiedene Frauenbewegungen, die sich für die Gleichstellung der Frau einsetzten. Während die erste Welle des Feminismus in der westlichen Welt vor allem gleiche politische Rechte forderte, verlangte die frühe Frauenbewegung in Russland zunächst den freien Zugang der Frauen zur Bildung und zum Arbeitsmarkt. Elsa selbst hatte keinen direkten Kontakt zu den Aktivist:innen der damaligen Frauenbewegung, teilte aber ihre Ansichten, die sie aus Publikationen kannte. Bereits mit 13 Jahren, als die Nachricht über den Kampf der Suffragetten sie erreichte, sah sie es „als ihre Frauenpflicht“ an, „für die Menschenrechte der Frauen auf der ganzen Welt einzutreten“ (ebd., 56). Später las sie Bücher, wie etwa Die Frau und der Sozialismus von August Bebel, die zu ihrer Zeit als progressiv galten und sich für die Gleichstellung der Frau auf wirtschaftlicher, familiärer und kultureller Ebene einsetzten. Als alleinerziehende Mutter und erfolgreiche Ärztin verstand sie es, sich in einer von Männern dominierten Welt durchzusetzen. Elsas ganzes Leben war also praktizierter Feminismus.
Empfohlene Zitierweise: Zanasco, Martino: Elsa als Feministin der ersten Welle, in: Elsa Winokurow - Studentin, Migrantin, Ärztin. Ein bemerkenswertes Leben um die Jahrhundertwende. (https://www.elsa-winokurow-esg.de/feministin). CC BY-NC-SA 4.0 (Datum des letzten Besuchs).